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  • Laura Affolter

«Viele Asylsuchende lügen!» – Wirklich?

«Auch wenn der Gesuchsteller sehr überzeugend wirkt, muss ich aufpassen. Denn viele lügen», sagt Ursula. Ursula (Name geändert) ist Fachspezialistin Asyl im Staatssekretariat für Migration (SEM) und trifft Asylentscheide. Ihre Meinung ist verbreitet, nicht nur unter Mitarbeitenden im SEM, sondern auch in den Medien: von Asylmissbrauch ist die Rede.


Was heisst es, glaubhaft zu sein

Der Beweisstandard im Asylverfahren ist nicht gleich «streng» wie in anderen Rechtsverfahren. Asylsuchende müssen nicht beweisen, dass sie die Flüchtlingseigenschaft gemäss Artikel 3 des Asylgesetzes erfüllen, sie müssen es «bloss» glaubhaft machen. Glaubhaft gemacht ist etwas gemäss Artikel 7 des Asylgesetzes, «wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält». Um die Flüchtlingseigenschaft zu belegen, gibt es oft keine materiellen Beweise. Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung beruht deshalb grösstenteils auf den Aussagen in den Asylanhörungen.


Fachspezialist*innen Asyl werden in der Analyse der sogenannten Realkennzeichen aus der Aussagepsychologie geschult. Realkennzeichen sind Indizien dafür, dass ein geschildertes Erlebnis auf erlebten Vorgängen beruht. Die Dissertationsforschung «Protecting the System: Decision-Making in a Swiss Asylum Administration» zeigt jedoch, dass diese Methode im Asylverfahren kaum zur Anwendung kommt, wie dieses Zitat einer anderen Fachspezialistin zum Ausdruck bringt: «Ich mache die Glaubhaftigkeitsprüfung nicht mit den Realkennzeichen. Es ist mehr wie ein Gefühl. Und nachher suche ich im Text danach.»


Findet man keine Realkennzeichen, heisst das nicht per se, dass die Aussage eine Lüge ist. Statt jedoch die Aussagen von Asylsuchenden auf Realkennzeichen zu untersuchen, funktioniert die Glaubhaftigkeitsprüfung im Asylverfahren genau umgekehrt: Es wird aktiv nach Merkmalen der sogenannten Unglaubhaftigkeit gesucht. In der Forschung ist deshalb auch von einem Falsifikationsverfahren die Rede. Das Problem ist, dass solche Elemente (wie z.B. Widersprüche) dabei nicht nur «gefunden», sondern auch aktiv erzeugt werden, unabhängig davon, ob etwas «tatsächlich» erlebt wurde oder nicht.


Wie wird das in der Praxis beurteilt

Wie das Zitat der Fachspezialist*in zeigt, spielen «Gefühl» oder «professionelle Intuition» in der Beurteilung der Glaubhaftigkeit eine grosse Rolle. Viele Fachspezialist*innen sagen, dass die Glaubhaftigkeitsbeurteilung meist mit einem «Gefühl» beginne. Dieses «Gefühl» kann in beide Richtungen gehen: dass einer Person geglaubt wird oder eben nicht. Es beeinflusst, wie stark in den Anhörungen nachgefragt, «gebohrt» wird, d.h. wie viele schwierige Fragen gestellt werden, und wie aktiv nach Elementen der Unglaubhaftigkeit gesucht wird.

Dieses «Gefühl» ist jedoch nicht als etwas rein Individuelles, Subjektives zu verstehen. Fachspezialist*innen eignen sich durch die Umgebung und Sozialisation in der Migrationsbehörde einen institutionellen Habitus an: eine bestimmte Art zu denken, handeln und «fühlen». Dieser Habitus ist geprägt davon, was in der Behörde als «professionell» gilt. Wie für Migrationsbehörden in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien aufgezeigt wurde, gehört ein gewisses Misstrauen zum professionellen Selbstbild. Um professionell zu sein, muss man genügend (aber auch nicht übertrieben) misstrauisch sein. Dies prägt wiederum das Vorgehen bei der Glaubhaftigkeitsprüfung.


Der Titel dieses Beitrags fragt provokativ danach, ob wirklich viele Asylsuchende lügen, wie weitherum behauptet wird. Ohne den Anspruch zu erheben zu wissen, wer lügt oder nicht, zeigt die Analyse der alltäglichen Entscheidungspraktiken im SEM: Wir müssen vorsichtig sein, was wir als Wahrheit oder Fakt akzeptieren. Nur weil vielen Schutzsuchenden aufgrund der mutmasslicher Unglaubhaftigkeit der Asylstatus verweigert wird, heisst dies nicht, dass diese Personen tatsächlich lügen und noch weniger, dass sie keine Flüchtlinge sind. Es heisst bloss, dass ihnen nicht geglaubt wird.


Dafür kann es viele Gründe geben – auch «intra-institutionelle». Einerseits spielen strukturelle Bedingungen eine Rolle: Es ist die offizielle Praxis im SEM, negative Entscheide «wenn möglich» mit Unglaubhaftigkeit zu begründen, statt mit dem Nicht-Erfüllen der Flüchtlingseigenschaft. Solche «Artikel-7-Entscheide» sind rechtlich schwieriger anzufechten. Oft ist es auch einfacher, «handfeste» Begründungen für «Artikel-7-Entscheide» zu finden. Andererseits ist es für die einzelnen Mitarbeitenden emotional einfacher, Gesuche aufgrund von Unglaubhaftigkeit abzulehnen. Schliesslich prägen die Sozialisierung in der Behörde, das Bedürfnis «dazugehören» zu wollen und als professionell betrachtet zu werden sowie das eigene Rollenverständnis das Verhalten der Fachspezialist*innen. Was die Fachspezialist*innen darunter verstehen, «richtig» für den Staat zu arbeiten, hat einen Einfluss darauf, wie sie bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung vorgehen.

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