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  • Teresia Gordzielik

Fluchtbewegungen 2015 – (k)ein Jahr der «Zeitenwende»?

Von Besinnung und Rückblick – viel beachteten Worten gerade in der Weihnachtszeit – war im ausklingenden Jahr im Flüchtlingsbereich nicht viel zu spüren: Flüchtlingskrise, Massen-zustrom, Flüchtlingsansturm, eine menschliche Welle, die Europa überfluten wird, sind nur einige Begriffe, die durch Medien, Politik und Gesellschaft wandern und das Bild einer nie da gewesenen Ausnahmesituation zeichnen, die Europa und die Welt vor eine Zerreissprobe stellen. Es ist die Rede davon, die Fluchtbewegungen im Jahr 2015 markierten eine Zeiten-wende. Ein kleiner Rückblick in die Migrationsgeschichte Europas relativiert die Vorstellung von einem nie gesehenen Notstand (siehe hierzu Fakten statt Mythen Nr. 6).

Flucht und Vertreibung, wie wir sie momentan erleben, sind Phänomene, welche Europa lange zuvor kennenlernen musste. Blicken wir zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, ist an die Fluchtbewegungen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Balkan-kriege 1912/1913 sowie den Beginn des Ersten Weltkrieges zu erinnern. 1914 flohen im Zuge des Einmarschs deutscher Truppen innert kurzer Zeit etwa eine Million Personen aus Belgien in die Niederlande, die damals etwa sechs Millionen Einwohner zählten. Im spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 flohen ungefähr 465‘000 Personen nach Frankreich.

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland flohen allein 1938/1939 rund 132‘000 deutsche Juden in europäische Nachbarländer. Während des Zweiten Welt-krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es zu den bislang grössten Fluchtbe-wegungen in der Weltgeschichte. Verlässliche Zahlen existieren bis heute nicht. Schätzung-en bewegen sich im hohen ein- bis zweistelligen Millionenbereich.

In der Nachkriegszeit suchten weitere Fluchtbewegungen die europäischen Staaten heim. Nach der Niederschlagung der Volksbewegungen in Ungarn 1956 und in der Tschechos-lowakei 1968 etwa flüchteten circa 200‘000 Personen. Erinnert sei auch an die grossen innerdeutschen Fluchtbewegungen ebenso wie jene, die durch die Kriege im früheren Jugoslawien ausgelöst wurden.Es gibt viele weitere Beispiele für erhebliche Fluchtbewe-gungen nach Europa (u.a. Algerienkrieg 1954-1962, Vietnamkrieg 1946-1972, Islamische Revolution 1979, Irakkriege 1990/91 und 2003, Krieg in Afghanistan seit 2001).

Der historische Blick zeigt, dass die momentane Situation besonnener betrachtet werden muss und ein ebensolcher Umgang damit gefordert ist: Nie zuvor in der Geschichte Europas befanden sich die Staaten politisch, wirtschaftlich, informationell, demographisch und infra-strukturell in einer so stabilen Situation wie heute, um die Aufnahme einer grossen Zahl von Flüchtenden zu bewältigen. Nie zuvor bestanden so umfassende Abkommen in Europa, die es den Staaten ermöglichen, gemeinsam die Herausforderungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu meistern. Und nie zuvor waren die europäischen Gesellschaften kulturell, sprachlich und religiös so divers aufgestellt, um Menschen aus anderen Ländern angemes-sen empfangen und integrieren zu können.

Einige geschichtliche Ereignisse und Phasen grosser Fluchtbewegungen wurden später mit dem Begriff «Zeitenwende» verbunden, so der Erste Weltkrieg, die Zeit des Dritten Reiches und der Zweite Weltkrieg. Die Frage, ob 2015 als ein Jahr der Zeitenwende in die (Migrations-)Geschichte eingehen wird, werden Praxis und Wissenschaft letztlich im Nachhinein und in der Gesamtschau mit den Umbrüchen besonders des 20. Jahrhunderts zu beurteilen haben. Bis dahin sollten wir uns der Fähigkeiten und Stärken unserer Gesellschaft besinnen und jene aufnehmen und unterstützen, die zu uns kommen.

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