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  • Writer's pictureSascha Finger

Statt chaotisch lieber demokratisch organisiert – Flüchtlinge an der Südgrenze Ungarns

Informelle Flüchtlingscamps an europäischen Grenzen, wie das von Idomeni (Griechen-land/Mazedonien) oder Röszke (Ungarn / Serbien) waren vor einem Jahr permanent in den Medien. Vielerorts entwickelten sich aus einst kleinen Zeltlagern riesige chaotische Sack-gassen, die völlig überfüllt kaum noch das Überleben der Schutzsuchenden ermöglichten. Berichte von Gewalt in diesen Camps häuften sich, da die Menschen dem Druck und den menschenwidrigen Bedingungen nicht mehr standhielten. Ich habe mich gefragt, wie es dort heute aussieht, ein Jahr nachdem die ungarischen Behörden einen Grenzzaun errichtet haben und bin nach Röszke gefahren, um mir ein Bild zu machen.


Im Lager leben momentan circa 700 Menschen, unter ihnen viele Kinder, von denen die überwiegende Mehrheit aus Afghanistan kommt. Syrer gibt es in diesem Camp keine mehr, denn diese gehen nach Tompa, 54km weiter westlich. Diese Aufteilung geschieht nicht willkürlich, sondern richtet sich nach Faktoren wie Sprache, kulturelle Nähe und den Netzwerken, die jede/r Migrant/in pflegt. Die (hygienischen) Lebensbedingungen sind schlichtweg erbärmlich mit einem einzigen Wasserhahn und zehn Plastiktoiletten. Duschkabinen haben sich die Flüchtlinge selber aus Stöcken und Decken gebaut. Essen erhalten sie einmal am Tag und gekocht wird auf offenen Feuern. «Dschungel» nennen die Menschen dieses Camp.


Entlang des «Dschungels» und des Grenzzauns patrouillieren täglich hunderte ungarische Polizisten. Es gibt viele Klagen der Geflüchteten über das Verhalten der Polizisten. Sie seien aggressiv, wirkten genervt und viele von ihnen werden mit der Versetzung an die serbische Grenze bestraft statt befördert. Bissspuren von Polizeihunden an den Armen und Beinen der Schutzsuchenden oder Berichte von Pfeffersprayeinsätzen zeugen davon. Die Grenze allein zu überqueren ist kaum noch möglich. Serbische Schlepper verlangen mittlerweile mehr als 500 Euro pro Person. Bleibt also nur die Möglichkeit, sich der Praxis der ungarischen Behörden zu beugen: Jeden Tag dürfen bis zu 15 Flüchtlinge bei Röszke die Grenze überschreiten und in die Transitzone einziehen. Diese ist ein hochbewachter Containerkomplex, umgeben von Stacheldraht und Grenzzaun.


Wer es in die Transitzone schafft, ist noch lange nicht in Ungarn, denn das Verfahren für Familien, Frauen, Erkrankte und Minderjährige mag zwar rascher sein, aber aufgrund verschiedener Untersuchungen (Gesundheit, Personalien, Lebensläufe, etc.) bleiben die Menschen tagelang dort. Alleinreisende Männer, deren Frauen und Kinder oft bereits in Europa sind, warten hier oft bis zu 28 Tage eingesperrt in einem Container. Diese Männer haben – gemäss der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán – ein erhöhtes «Terroris-muspotential» und müssen deshalb gesondert behandelt und geprüft werden.


Wer die 28 Tage übersteht und nicht von der Drehtür Richtung Serbien Gebrauch macht, dem winken die Flüchtlingslager in Ungarn. Dort allerdings warten die meisten nur auf ihren negativen Asylentscheid – Monate bis Jahre, wie mir ein junger Afghane berichtet, der seit über zwei Jahren in Ungarn ist. Denn Asyl erhält in Ungarn fast niemand; in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden nur 87 Personen als Flüchtlinge anerkannt.


Wer entscheidet, welche 15 Personen von einer 700 Namen langen Liste in die Transitzone einreisen dürfen? Zuerst bestimmen die ungarischen Behörden die Quote und legen gleichzeitig fest, dass täglich nur ein allein reisender Mann in die Transitzone darf. Die restlichen 14 Personen sollen Kranke, Frauen, Kinder oder gemeinsam reisende Familien sein. Dann bestimmen die Menschen des Camps selber, wer wo auf der Liste steht. Es wird demokratisch abgestimmt, wird mir von Migszol, einer ausserordentlich gut organisierten ungarischen NGO, erklärt. Ein gewählter Camp-Vorsteher prüft in einem letzten Schritt zusammen mit dem UNHCR täglich diese Liste. Er ist das Sprachrohr dieser Gemeinschaft auf Zeit und erklärt mir, dass jede/jeder ihre/seine Position akzeptiere und sitzt dabei auf dutzenden Listen und Unterlagen in seinem kleinen Igluzelt. Er spricht mehrere Sprachen und ist täglich mit den Menschen und den Hilfsorganisationen in Kontakt.


Auch sonst wirkt das Camp sehr strukturiert. Die einen sammeln den Müll auf, andere waschen ihre Wäsche am einzigen Wasserhahn. Als am Mittag das Essen verteilt wird, reihen sie sich friedlich ein – Kinder und Alte zuerst.


Die ungarische Politik zielt auf Abschreckung: In einem ersten Schritt verweigert Ungarn den geflüchteten Menschen den Zutritt und erschwert ihre Lebenslage so dramatisch, dass keine weiteren mehr kommen wollen. Später werden sie wochen- oder monatelang in Flüchtlingslagern eingesperrt. Im letzten Schritt werden sie entweder abgeschoben oder in Lager in Westungarn verlegt, sodass sie über die grüne Grenze nach Österreich weiterreisen. Dadurch entledigt sich Ungarn schliesslich gänzlich seiner humanitären Verpflichtung.


Und die Schutzsuchenden? Sie kommen weiterhin und reagieren mittlerweile mit einst von Europa gepriesenen Werten: Ruhig, strukturiert und demokratisch.



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